Aus dem Tagebuch einer Schnecke

Günter Grass

Aus dem Tagebuch einer Schnecke
Aus dem Tagebuch einer Schnecke
1972
Tusche
20,5 x 53,1 cm

Beschreibung

Eine Nacktschnecke kriecht über das griechisch anmutende Profil eines Gesichts. Auge, Nase und Mund sind in einer ungewöhnlichen, leicht verzerrten Perspektive widergegeben: Das Auge ist von vorne dargestellt, statt seitlich, und blickt etwas verloren am Betrachter vorbei. Es werden somit Frontal- und Profilansicht eines Gesichts miteinander vermischt. Diese Darstellungsweise erinnert an die Porträts Pablo Picassos seiner Geliebten Marie-Thérèse Walter. In zahlreichen Bildnissen stellt der Katalane das markante Gesicht der jungen Frau dar, aus dem ungeachtet der Profilansicht die Augen den Betrachter frontal anblicken.

Im Mittelgrund der Zeichnung zieht am Horizont aus entgegengesetzter Richtung eine zweite Nacktschnecke entlang. Beide Schnecken haben ihre Köpfe mit den ausgestreckten Fühlern in das Bildinnere gewendet. In dieser Entwurfszeichnung zum Umschlag des Prosawerks Aus dem Tagebuch einer Schnecke (1972) verbindet Grass verschiedene Elemente, die den Inhalt des Texts versinnbildlichen: Zum einen steht die Schnecke, die Grass als sein »Wappentier« bezeichnet, für die Einsicht: »Der Fortschritt ist eine Schnecke«. Grundlegende, dauerhafte Neuerungen würden demnach nicht durch Revolutionen, sondern durch allmählichen und beharrlichen Wandel erfolgen. Dieses Prinzip sieht er in der Politik Willy Brandts verkörpert. Die Schnecke ist ein Leitmotiv im Buch, in dem Grass den Zweiten Weltkrieg und seine Wahlkampferfahrungen reflektiert. Es ist schließlich die deutsche Schuld – die Vertreibung der Juden aus Danzig und der Holocaust – , die den Autor-Erzähler dazu motiviert, sich politisch zu engagieren.

Zum anderen sind Schnecken ein Sammelobjekt der Hauptfigur »Zweifel«, der sie auf den Körper seiner Geliebten Lisbeth auflegt, um so ihre Melancholie zu therapieren. Mit diesem Thema schließt Grass in Form eines Essays über Albrecht Dürers Kupferstich »Melencolia I« (1514) seine autobiografische Erzählung ab.