Beschreibung
»Kaum angekommen, begann ich, neben einem stehenden Akt nach Modell, als freie Arbeit ein Huhn in kompakter Form anzulegen, das später mit rotbrennendem Töpferton dünnwandig in die Gipsform gedrückt und als meine erste Terrakotta gebrannt wurde. Die Hühnerzeichnungen der Frankreichreise vom Vorjahr wirkten nach; wie mich Hühner und Hähne noch lange, bis hin zu dem Gedicht Die Vorzüge der Windhühner, zu Zeichnungen und Lyrik anstiften sollten.«
So äußert sich Günter Grass in seinem Erinnerungsband Beim Häuten der Zwiebel (2006), worin er seine ersten künstlerischen Motive, Hennen und Hühner, beschreibt. Während der Autostopp-Reisen in Italien 1951 und ein Jahr später in Frankreich bietet sich bei längeren Wartezeiten auf Mitfahrgelegenheiten das Gefieder als Studienobjekt an, das er in zahlreichen Skizzen und Bewegungsstudien festhält. Die Vogelfigur ist somit das erste Motiv, dem sich Grass in unterschiedlichen Ausdrucksformen widmet und das er variiert – sei es als Zeichnung, Grafik, Plastik oder im Gedicht.
Eine dieser frühen Arbeiten ist dieses Gipshuhn. Wie bereits in den Skizzen wird deutlich, dass Grass den Körper des Huhns aus stereometrischen Einzelformen zusammenfügt. Er abstrahiert die Konturen des Tiers stark. Dadurch arbeitet er dessen charakteristische Erscheinung umso deutlicher heraus wie den kleinen, hoch erhobenen Kopf, den kegelförmigen Körper, die geschweifte Form von Rücken und Hinterteil mit den Schwanzfedern. Künstlerische Einflüsse seines Lehrers Karl Hartung aber auch Ewald Matarés und Constantin Brâncușis spielen in diese bildhauerische Analyse der Objekte und deren Vereinfachung auf ihre Grundformen hinein.
Die kleine handliche Plastik ist eine der wenigen Arbeiten von Grass, die auch nach dessen Tod mit Genehmigung der Günter und Ute Grass Stiftung weiterhin in Bronze gegossen wird: Alle zwei Jahre wird sie im Rahmen des jährlichen Lübecker Literaturtreffens als Günter-Grass-Preis »Von Autoren für Autoren« vergeben.