Novemberland, 4 (Allerseelen)
Günter Grass
Beschreibung
»Allerseelen« lautet Grass' viertes Gedicht aus dem Lyrikband Novemberland (1993), das er direkt in die Sepiazeichnung hineingeschrieben hat. Das Blatt wird von einer großen Vier dominiert, die eine Reihe von Grabkreuzen umgibt. Die Kreuze verjüngen sich nach hinten und vermischen sich dabei mit den Buchstaben des Texts.
»Allerseelen« – Tag des Totengedenkens. Doch welcher Toten wird hier gedacht? Die Antwort deutet sich bereits in der ersten Zeile an: »Ich flog nach Polen, nahm November mit.« Es sind die Toten Polens bzw. der ehemaligen Gebiete Ostpommerns – der verlorenen Heimat des lyrischen Ichs, wie in der dritten Strophe deutlich wird: »So nachbarlich durchnäßt, so ferngerückt verloren«. Die Geschichte hat Deutsche und Polen einander entfremdet. Nur noch an die Toten – den Opfern der nationalsozialistischen Verbrechen – erinnert man sich gemeinsam. Sie verbinden beide Länder auf ewig miteinander.
Der Lyrikband umfasst dreizehn Gedichte, die Günter Grass in Reaktion auf die rechtsradikalen Übergriffe auf Asylbewerberinnen und - bewerber sowie Türkinnen und Türken in Rostock und Mölln im Herbst 1992 verfasst hat. Er schlägt dabei den Bogen zurück in die deutsche Vergangenheit. Dem Entsetzen über den Ausbruch von Chaos und fremdenfeindlicher Gewalt begegnet Grass mit der strengen Form des Sonetts, das sich in der Regel aus zwei Vierzeilern und einem Sechszeiler zusammensetzt. Doch hat den Gedichten hier weniger Shakespeare oder Petrarca, sondern vielmehr Andreas Gryphius Pate gestanden – ein Dichter des Barocks, der die Schrecken des Dreißigjährigen Kriegs in eindringlichen Sonetten festgehalten hat.